Das Kolonialwarengeschäft

Das Kolonialwarengeschäft

von Jürgen Herbst

1902 baute mein Großvater Malermeister August Kingler, ein Haus in Niederbieber in der Steinbitz (heute am Steg 6). Er war zu der Zeit schon als Maler und Lackierermeister mit einigen Malergesellen in Niederbieber tätig.

August Kingler richtete seiner Frau Johanette – Nettchen – im Erdgeschoss des Hauses ein Kolonialwarengeschäft ein. Man konnte dort Lebensmittel, Drogerieartikel, Schreibwaren, Rauchwaren und kleine Haushaltartikel einkaufen.

Von der Straße, Jakobstraße, musste man 5 Stufen hoch gehen, dann stand man vor der Ladentüre, einer schweren Holztüre mit einem Fensterchen in der Mitte. Öffnete man die Tür, vernahm man das bimmeln einer Glocke. Die Glocke war an einer Stahlfeder angebracht und bimmelte, sobald man die Tür in Bewegung setzte.

Das Ladenlokal war ca. 40qm groß, hatte 3 Fenster davon war eins ein großes Rundbogenfenster, das als Schaufenster diente. Wunderschöne Holzregale mit vielen kleinen und großen Schubladen standen an den Wänden. Die Schubfächer waren alle mit einem ovalen weißen Emailleschild mit schwarzer Schrift versehen, damit man wusste, was das Schubfach enthielt. Die Theke mitten im Raum war mächtig und groß, viel zu hoch für kleine Kinder. Rechts und links auf dem Ladentisch standen Glasvitrinen. In der einen wurde der Käse aufbewahrt. Schnittkäse wurde noch mit einer Handhobel geschnitten, ein rechteckiges Holzteil mit einem höhenverstellbaren Messer von dünn bis dick. In der Mitte stand eine Waage. Am Anfang war es eine Schalenwaage. Die eine Seite hatte eine Schale für die Waren , die andere Seite ein flaches Teil, auf das man die Gewichtsteine stellte. Die Gewichtsteine, 10 Gramm bis 500 Gramm, waren aus reinem Messing und mussten jede Woche mit Sidol geputzt werden. Die größeren Gewichte, 1 kg bis 5 kg, waren aus Eisen. Später wurde eine neue Waage angeschafft, die zeigte das Gewicht schon mit einem Zeiger an. Auf der anderen Seite des Ladentisches standen die Bonbongläser und die zweite Vitrine, gefüllt mit Schokolade, für mich die interessanteste Ecke. Hinter dem Ladentisch hingen die Papiertüten – von kleinen Spitztüten für Bonbons bis zu großen Papiertüten – die 5 kg fassten; denn die meisten Lebensmittel wie Zucker, Mehl, Salz, Reis waren nicht abgepackt, sondern sie wurden in großen Säcken angeliefert und in die jeweiligen großen Schubladen geschüttet. Aus diesen Schubladen wurden dann mit kleinen Schaufelchen, die in jeder Schublade lagen, die Lebensmittel in Tüten abgepackt und gewogen. Auch Öl , Essig , Maggi, wurden mit einem Litermaß in Flaschen abgefüllt. Die Flaschen wurden von den Kunden mitgebracht und nach dem Abfüllen wurde dann die Flasche mit einem Papierzettelchen versehen, auf dem der Inhalt vermerkt wurde.

Die kleinen Schubfächer verbargen wahre Schätze. Lorbeerblätter, Rum-Aroma, Vanillezucker und Backpulver, Zitronat, Hirschhornsalz, Zimt, Muskat. Wenn man die Nase in diese kleinen Schubfächer steckte, kam einem der ganze Duft des Orients entgegen. Wir hatten auch schon einen Kühlschrank, ohne Elektrik. Man füllte den isolierten Holzschrank, der mit Blech ausgekleidet war, mit Stangeneis. Stangeneis war ein ca. 1m langes und ca. 20 cm x 20 cm großes Eisstück. Das Eis wurde regelmäßig angeliefert. Im Sommer kam die Butter, Fett, Sanella, Rama und der „Klatschkäs“- (Quark) in den Kühlschrank. Allerdings wurde er von der Oma auch für ihre privaten Kühl-vorräte gebraucht. Wir Kinder haben uns im Sommer eigene Limonade gemacht.

In einen Topf mit Wasser schütteten wir ein Tütchen Natron, gaben etwas Zucker und etwas Essig dazu, füllten es in eine Flasche, stellten sie in den Kühlschrank. Ein herrlicher, erfrischender Trank. Beim Kauf von Rama und Sanella gab es jede Woche neue Sammelbildchen die man in ein extra dafür vorgesehenes Album kleben konnte, später wurden beim Kauf von einem Paket Rama ein Plastikfigürchen beigeschenkt. Auch die dienten zum sammeln und natürlich auch zum tauschen. Das war für uns Kinder so spannend wie heute 6 Richtige im Lotto.

Begeben wir uns nun mal in die andere Abteilung: Schulbedarf. Es gab die gute alte Schiefertafel im Angebot, dazu den Schiefergriffel und den Milchgriffel, der war weicher und weißer, das Tafelschwämmchen mit und ohne Dose, Schreibhefte, Blöcke, Löschpapier wurde einzeln verkauft sowie Bleistifte, Radiergummis und den Federhalter. Zum Federhalter gehörten ja die unterschiedlichsten Schreib- und Zeichenfedern und natürlich auch die Tinte. Die Tinte wurde aus großen Flaschen mit ca. 2 ltr Inhalt in die mitgebrachten Tintengläser abgefüllt. Es gab blaue, schwarze und rote Tinte und Tusche. Hin und wieder gab es beim Abfüllen auch eine große Schweinerei.

Die Tabakwaren, gut abgesichert in einer Glasvitrine, präsentierten für mich viele verbotene Sachen. Da waren die Zigarren und die bekannten Burgerstumpen, der Hannewacker Kautabak, (viele alte Leser werden sich noch an den Bauer Heinemann, (Hani) erinnern, der so herrlich „priemen und spucken“ konnte), Schnupftabak in kleinen Dosen und die vielen Zigaretten. Es gab Päckchen mit 5 Stück Inhalt, aber meistens wurden sie lose, einzeln verkauft. Die Zigaretten wurden in ovalen Dosen,die bunt bedruckt waren, aufbewahrt. Die Namen der Zigaretten waren Overstolz, Eckstein, Golddollar.

Auch gab es wunderschön aussehende Pfeifentabakpäckchen in silber und gold mit tollen Namen wie „Cramer Krüll“ oder „ Schwarzer Krauser mit den Negerlein“, eine goldene Packung mit 5 schwarzen Negerköpfchen drauf. Ein Päckchen ist noch in meinem Besitz, auf der Rückseite steht: Als älteste Tabakfabrik Deutschlands -Cramer G.m.b.H. Bochum – garantieren wir für eine erstklassige Mischung des Schwarzen Krausen, mit den Negerlein, unter Verwendung vorzüglicher, amerikanischer Kentucky- und dunkler Virgin-Tabake, mit einer Spezial -Saucierung nach alt überlieferten Rezepten. 50 Gramm Feinschnitt für Zigarette und Pfeife Preisgruppe A .

Meine Freunde, die das ja kannten, waren natürlich später oft hinter mir her, ich sollte doch mal eine Zigarette stibitzen, klauen, mitgehen lassen. Wir haben dann mit sechs Burschen alle an einer Zigarette gezogen und fürchterlich gehustet.

Die Drogerie-Abteilung bestand aus einem großen schwarzen, hochglänzend lackiertem Schrank mit abschließbaren Glastüren und darunter wieder viele schwarze Schubladen mit weißen Emailleschilder. Da stand dann in Deutsch und in Latein die Inhaltsangabe drauf. Alle möglichen Teesorten wie Ceylon–, Pfefferminz – , Blasen- , Beruhigungstee und viele mehr.
Der Schrank beinhaltete Pillen gegen alles mögliche. Verschiedene Parfüm damals ganz bekannt „Tosca“ und „4711“ beliebte Geschenkartikel zu allen Anlässen. „Klosterfrau Melissengeist“ ein Allheilmittel. Glyzerin wurde unter anderem zum pflegen der verarbei- teten Hände gebraucht. Verschiedene Sorten von Puder und Creme für den Körper, fürs Gesicht und für die Füße, die gute“ Penaten und Nivea Creme“ war fast für alles gut. Pflaster und Mullbinden durften nicht fehlen. Bei Damenbinden kam immer eine Peinlichkeit auf, wenn ich dann als Junge beim Verkaufen half, hieß es immer: „ das kannst du noch nicht, hol mal deine Tante…“. Dann wurde ganz versteckt die „Camelia“ in Zeitungspapier eingewickelt und sofort in die mitgebrachte Tasche versteckt.

Die Seifenindustrie machte am meisten Reklame. Da wurden schöne,emaillierte Schilder am Haus angebracht „ Persil von Henkel“, Sunil , Palmolive, Suwa, Sil und Henko.
Gewaschen und geputzt wurde mit Schmierseife und Kernseife von Dalli, die Böden wurden mit Bohnerwachs behandelt. Übrigens war der Bohnerwachs auch lose und wurde in mitgebrachte Dosen oder auf Pergamentpapier abgepackt und gewogen.
Schuhfett und Schuhcreme von Erdal mit dem Frosch gehörten zum Sortiment.

Besen aus Birkenreisig, Handfeger aus Rosshaar oder Cocos , die Schaufel war noch nicht aus Plastik- nein aus Metall. Auch gab es noch keine Plastiktüten. Nein, jeder hat brav seine Tasche oder ein Einkaufsnetz von zu Hause mitgebracht. In der Vorweihnachtszeit wurden Christbaumkugeln und Baumspitzen, alle sehr zerbrechlich, verkauft.

Um die verkauften Sachen nachzubestellen, wurden wir von „Vertretern“ besucht. Die kamen mit dem Auto vorgefahren, hatten eine riesengroße Tasche dabei, aus der sie ein Buch mit den Warensortimenten herausholten und dann aufschrieben, was fehlte.
Es gab auch kleine Zulieferer in der Nähe, die fuhren dann einmal in der Woche mit einem größeren Auto vor und deckten den Bedarf direkt aus dem Fahrzeug. Es wurde eine Rechnung ausgestellt und sofort bezahlt.

Ich hatte besonders gerne, wenn die Vertreter kamen; denn sie wussten von dem kleinen Jungen und brachten mir immer etwas mit, sogenannte Werbegeschenke.

Die Leute, die zum Einkaufen kamen, hatten immer viel Zeit. Es wurde über das Neuste im Dorf gesprochen. Es wurde auch über den oder die getratscht, und wenn dann einer dazukam, wurde die ganze Geschichte noch einmal wiederholt. Es war eine wunderschöne, beschauliche Zeit. Hier bei uns an der Scharfen Ecke in Niederbieber, konnte man sich im Umkreis von hundert Metern mit allem eindecken. Neben uns war das Bekleidungsgeschäft Otto Bargs. Um die Ecke war die Bäckerei Wilhelm Nies, an einer weiteren Ecke hatte die Familie Wilhelm Projahn eine Metzgerei. Weiter im Uhrzeigersinn befand sich die Drogerie und Fotohandlung Ewald Baier, daneben reihte sich der Bäckermeister Albert Welker mit seinem Geschäft. Dann kam ein Milchgeschäft von Ernst Blankenberg in dem man mit dem Milchblech Frischmilch kaufen konnte. Dann folgte der Betrieb von Elektromeister Ferdinand Ullner. Gehen wir auf der gegenüber – liegenden Seite wieder zurück,. so hatten wir das Süßwarengeschäft von „Baiers Marta“ und dem Haushaltwarengeschäft Kretzen. In dem konnte man vom Küchenherd über Öfen bis zum Kaffeesiebchen alles kaufen. Ein Gemüseladen von Wilhelm Zimmermann und ein Schuhmacherbetrieb Ströder befanden sich alle nebeneinander. Diese Vielzahl von kleinen, gemütlichen Geschäften wünscht sich so mancher im geheimen noch manchmal zurück.

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